Der weise Mann und das Schmerzgepäck

"Du, ich wollte das gestern wirklich. Ich habe mich nicht verstellt oder so.", nuschelt er."Du machst mir doch was vor!" Er will mir wieder den Kopf, das Gesicht streicheln, so eine mitleidige Geste, der immer irgendwie ein Gefühl von Ernsthaftigkeit anhaftete. Freundschaft, er wolle mich nicht verlieren. Ich schaue ihn ernst an, denn die Leidenschaft, die uns letzte Nacht überkam und der vertraute Morgen zwischen Frühstücksei und vorgelesenen Jelinek-Interviews war für mich weit von Freundschaft entfernt, eine logische Folge unserer offenen Annährung. Eben offen und nicht exklusiv.

Ich schaue ihn ernst an und ziehe den Kopf zur Seite, dass seine Hand allein in der Luft stehen bleibt und sage, was ich mir wünsche: "Ob irgendwann mal jemand Starkes kommt, der mich richtig FEST hält." Das war keine Frage. Keine, die an ihn gerichtet war.

Wir stehen da an der Ecke der Fährstraße, wo wir immer stehen, wenn wir über uns reden und uns nicht trennen können. Die jeweilige Wohnung gleichweit entfernt. Blätter, Passanten und Nachbarn, die wir in den Augenwinkeln vorbeiziehen lassen. Nur war da plötzlich jemand anders Thema zwischen uns. Und die Ratlosigkeit verabschiedet die Leichtigkeit, in der wir uns gerade so schön arrangiert hatten. Denn drei sind zu viel zwischen zwei Menschen. Vielleicht war ich es, die unter Wahrnehmungsstörungen litt.

Und da tritt ein Mann, weißhaarig mit Leinenhemd aus dem Haus, schwer beladen mit Sachen, Rucksack und Taschen, und steuert auf den roten, alten VW-Bus zu, der direkt neben uns parkt. Er ist langsam beim Wagen öffnen, sieht mich direkt an, uns, wie wir irritiert voreinander stehen und in seiner Anwesenheit verstummen. Ich beiße mir auf die Lippen, ertrage die Stille kaum.
„Können SIE uns was raten?“ Ich gebe der Frage Nachdruck, indem ich beim lauten Aussprechen das Kinn seitlich hoch schiebe, nicht unhöflich - eher eindringlich fordernd. Eine Aufforderung an den weisen Mann, er müsste es doch wissen. Er guckt, uns an. „Um was geht es denn?“ Der Junge grinst leise. – „Zwischenmenschlichkeit“, sage ich. Er schaut mich an, dann ihn, ahnt die Situation. „Na, nichts wie ran, loslegen. Einfach machen!“ Er lächelt immer noch neben mir mit gesenktem Kopf und rundem Rücken. „Ich glaube, der Junge ist etwas blockiert“, sage ich. „Vertrauen“, erwidert der Alte, wirft die Sachen in den Bus. „Ich habe heute auch noch immer nicht die drei Nachrichten einer Freundin beantwortet, aber das mache ich sobald ich Zeit habe. - Da muss man wirklich Vertrauen haben.“ Ich denke an die Situation zwischen uns und das da etwas nicht klar, offen und ehrlich war. „Ich glaube, das hat er gerade eben zerstört“, sage ich gefasst, ziehe einen Mundwinkel schief, begreife. Der Junge schaut zu Boden. Der Weise hat nun im roten Bus Platz genommen.
„Oh, wir spielen doch alle nur.“ Der Wagen springt nur schwer an und ich habe das Gefühl, er will ewig bleiben, nicht weg, ehe ihm noch was Passendes zu uns einfällt – welch Irrsinn, ihm Pauschal-Lebensweisheiten abzuverlangen, wir sind doch Einzelfall ... Der Junge war schon in unruhiger Verlegenheit dabei, ihm Starthilfe anzubieten, da springt das Auto im zweiten Anlauf an.
„Und es kommt der Frühling“, lächelt der Reisende. Er spricht zu mir, weil ich ihn nach Rat fragte, dieser Junge nur daneben stand, lauschend. „Bon voyage“, sage ich, lächle, weil ich denke er macht wohl jeden Tag eine große Reise. Ich schaue den Jungen wieder an und sage: „Der Frühling?“, dann eine Pause. „Ruhe", sage ich bestimmt. "Ja, Ruhe - endlich“ und sehe ein.

Wir reden noch eine Weile weiter Diffuses. Freunde bleiben. So jetzt nicht weitermachen können. Leichtigkeit dahin. Ehrlichkeit. Moral. Vertrauen weg, Respekt auch. Wider Erwarten. Kaputt gemacht. Ratlos sein. "Weißt du, das ist wieder ein kleines Gewicht, was du mir da auf mein Schmerzgepäck wirfst, was ich mit mir weitertragen werde", und ich meine das Misstrauen gepaart mit einer mir bisher fremden Unsicherheit, und versuche nicht vorwurfsvoll dabei zu klingen. Er guckt stumpf. Im zweiten oder dritten Versuch der Verabschiedung umarmt er mich, als könne das alles wieder gut machen. Ich bleibe mit verschränkten Armen wie ein dünner Fels stehen und er umklammert mich fest, auch ohne dass ich noch etwas erwidere. Fest. Wir reden noch etwas oder schweigen uns an, alles ist ruhig. Keiner will gehen. Er weiß, was das hier alles bedeutet. Ich hebe meine schwere Tasche, den Beutel mit der leeren Kuchenform und meine halbleere Mate-Flasche vom Boden auf, packe alles an, drehe mich um - ohne ihn anzusehen - und gehe, in einem Tempo ohne variierende Geschwindigkeit. Mit all den Sachen behängt und in den schweren Händen trägt mich mein Stolz und ich weiß, ich darf jetzt nicht ins Schwanken geraten, den Blick schief über die kleinen quadratischen Pflastersteine schwenkend. Erst als ich über die Schwelle zu meiner Haustür trete, drehe ich mich nochmal um. Er steht noch da, dabei wollte er längst los, fliehen, schon immer Grenzen ziehen. Und nun bin ich gegangen. Als ich die abenddunkle Wohnung betrat, die Tür derb ins Schloss fällt, brach ich direkt auf dem Holzboden nieder, ein paar wenige Tränen nur fielen aus mir heraus.

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