Heute, geöffnet.

Ein Gasthaus, das niemand betritt. Drinnen wartet eine Bedienung auf Gäste. Die Stille surrt.
Den Rocksaum zupft das dunklegraue Mädchen nochmal zurecht. Heute verströmt die Vorsuppe keinen Hauch Appetit. Sie steht neben einem Tischchen, wo sich bordeauxfarbene Menü-Karten stapeln. In Klarsichthüllen kleben Gerichte wie Hühnerbein und Erbsen in dicker Soße an Königsberger Klopsen neben Rindergoulasch und Rotkaut. In Schnörkelschrift stehen sie auf kopierten Seiten. Sie rückt die Karten zu einem akkuraten Quader. Auf Kante. Dann blickt sie zur Tür. Einen Fuß setzt sie dicht an den anderen und stellt sich gerader auf, drückt den Rücken durch. Sie spürt die Sehnen bis in die Achillesverse. Ein Zucken überzieht ihr Gesicht, ehe sie sich wieder auf die Tür konzentriert. Eine Holztür, dunkles Holz, massiv. Sie öffnet sich nicht. „Karolina“, hört sie jemanden ihren Namen rufen. Draußen. Sie schaut zur Tür, wieder. Es kommt niemand herein. „Nun“, atmet sie aus, streicht sich den Rock glatt und bewegt sich zum Fenster. Ihre Schritte machen kaum einen Laut, so behutsam betritt sie den ihr vertrauten Boden. Das Fenster ist verriegelt, Doppelgläser, stumpf und dünn. Hinter den Gardinen, blassgelb vom Rauch der längst verflogenen Geselligkeit dieses Orts, regt sich nichts. Karolina berührt den Vorhang, presst ihn mit der Hand beiseite und schaut durch einen schmalen Schlitz in die Welt außerhalb dieses Gasthauses. Ein Welt-Fenster. Sie wagt nur einen kurzen Blick hinaus. Hinter dem Staub an der Scheibe drücken sich Blätter, Äste, Wälder daran fest. Einen Mensch sieht sie nicht. Karolina lässt die müden Gardinen fallen. Keine Befindlichkeit umraunt sie, die Zeit pulsiert nicht, die Kugeln der Gaderobe gucken gleich, in dem Raum ohne Rausch und Atem. Luft, denkt sie. Frischluft. Sie läuft auf die Tür zu, passiert die eingedeckten Tische im Halbdunkel des Lokals. Keine Kerze brennt, ehe ein Gast Platz genommen hat. Ein, zwei, sieben Tische streift sie und hält vier Sekunden inne. Mit einem Ruck zieht sie die Tür schwer aus dem Schloss, Licht fällt durch die Äste. Pigmente des Sommers flirren durch die Luft unter dem Blättergewölk. Sie sieht nichts, nur das grelle Licht in dicken Strahlen. „Karolina!“, ruft es hektisch. Hatte sie doch jemanden gehört? Sie sieht den Koch, mit Säcken und Kisten beladen, den Weg zum Gasthaus hinauf jagen. „Karolina, schön, dass du da bist. Wir haben heute Gäste.“

Kommentare

Beliebte Posts